Über das lebendige Lesen und Denken.
Die Entwicklung der Seelenkräfte zum geistigen Erkennen.
Wenn Du im Alltag liest, dann liegt dieser Art zu lesen in der Regel eine Eigenart zugrunde, die Du in der Schule und Deiner Ausbildung gelernt hast: die Texte schnell ihrem Inhalt nach zu erfassen.
Bist Du neugierig, Dein Lesen und Denken lebendiger zu machen?
Denn das Lesen der anthroposophischen Originaltexte erfordert von Dir eine ganz andere Art zu lesen, sonst bleiben die Texte von Rudolf Steiner unverständliche Literatur. Originaltexte sind die Bücher, die er selbst geschrieben hat, und Vorträge von ihm, die verschriftlicht worden sind.
Was hat Rudolf Steiner zu Lebzeiten eigentlich gemacht?
Das zu verstehen, erklärt die Besonderheit seiner Sprache in seinen Texten und Vorträgen:
Rudolf Steiner blickte hellsichtig in die geistige Welt. Das ist der Teil der Welt, der sich nicht bis zur festen Materie verdichtet hat und deshalb auch nicht unmittelbar sinnlich erfassbar ist. In der geistigen oder auch übersinnlichen Welt wirken geistige Tatsachen und Kräfte, die keinen stofflichen Körper haben.
Das Erkennen, die Wahrnehmung der geistigen Welt, erfolgt in Bildern, auch Imaginationen genannt. Man erlebt klare, intensive, lebendige Bilder, welche einen seelisch-geistigen Inhalt haben.
Diese Welt zu leugnen ist natürlich kinderleicht, denn sie kann ja sinnlich nicht erfasst werden. Das menschliche Erkennen, so wie es im alltäglichen Leben und in der gewöhnlichen Wissenschaft arbeitet, kann in die geistige (übersinnliche) Welt tatsächlich nicht vordringen.
Jedoch ist es in der gegenwärtigen Entwicklungsperiode der Bewusstseinsseele möglich, durch eine andere Erkenntnisart die geistige Welt zu schauen, und zwar durch die “Seelenbetätigung”, die Anwendung der Seelenkräfte des Denkens, Fühlens und Wollens.
Die lebendigen Bilder in der geistigen Welt, die sogenannten Imaginationen, sind weiterhin durchdrungen von Inspiration (Sprache der geistigen Welt) und Intuition (Verbindung mit den geistigen Wesenheiten). Hätte Rudolf Steiner diese Bilder einfach so übermittelt, dann hätten sie keinen Bezug zu unserer physischen Realität und wir würden diese Bilder gar nicht verstehen. Was er also tat, ist, diese Bilder in eine Gedankenform, in Begriffe zu übersetzen, so dass Du sie mit Deinem logischen Verstandesdenken nachvollziehen kannst.
Und noch etwas: Die Art und Weise, wie diese geistigen Bilder von ihm in eine Gedankenform übersetzt werden, ist so, dass die Bilder dabei ihren imaginativen Charakter behalten.
Das ist das wirklich Besondere an seinen Texten.
Die lebendige Kraft, die er in der geistigen Welt erlebt, steckt also in den Worten. Und das haben übrigens nur Texte, die aus einer unmittelbaren geistigen Schau, aus einer unmittelbaren göttlichen Offenbarung geschrieben wurden.
Und wie kann es nun gelingen, diese Texte „lebendig“ zu lesen?
Nun, die geistigen Bilder (Imaginationen), die er in Worten und Gedanken aufgeschrieben hat, die müssen von Dir rückübersetzt werden - wieder zurück in geistige Bilder!
Die Worte und Gedanken müssen also belebt werden, verlebendigt werden, so dass man wieder zum Schauen der geistigen Bilder kommt. Das ist mit dem “lebendigen” Denken gemeint, dass man nicht nur abstrakt liest, sondern das Gelesene bewusst in sich innerlich nachbildet und die geistigen Bilder und ihre Kraft aus den Worten und Sätzen wieder “aufbaut”.
Und hierzu brauchst Du die innere Aktivität Deiner Seele. Sie hat die Fähigkeit zum Denken und Fühlen, also zum Erleben der Texte vorstellungsgemäß und gefühlsgemäß.
Wie soll das gehen?
- lies frei, sei unbefangen, ohne Vorurteile
- lies mit ruhiger, besonnener Gedankenanstrengung
- mache Pausen (auch längere)
- bilde das Gelesene in Dir selbst aktiv in Bildern nach
Was geschieht dabei?
- durch die Aktivität des lebendigen Denkens erschließt sich Dir die Kraft in den Worten, diese drängt sich nämlich nicht auf, sondern sie muss von Dir erlebbar gemacht werden
- und diese Art des Lesens bildet Deine Seelenkräfte (Denken, Fühlen und Wollen) aus und macht sie fähig, Schritt für Schritt den geistigen Tatsachen nahe zu kommen
- immer unter Aufrechterhaltung des Denkens und Ich-Bewusstseins (keine Trance, keine unbewussten Aktivitäten)
Kann das jeder?
- das kann jeder Mensch, der die rechte Geduld aufbringt, in die anthroposophischen Originaltexte hineinzufinden
- es sind keinerlei Vorkenntnisse nötig
Und wozu ist das gut?
- vom Denken ausgehend, werden die Bilder und die Kraft der geistigen Welt ins Erleben gebracht
- um so einen Schritt weiterzugehen, über den Glauben und die Philosophien hinaus zum bewussten Erkennen der geistigen Tatsachen (Erkennen ist das klare Denken und seelische Erleben zusammen)
Entscheidend ist also, die anthroposophischen Texte zu erleben. Und das geht nicht anhand von ein paar Begriffen, nicht mit einer etwa in kurzen Sätzen zusammengefassten Theorie oder gar einem Programm, sondern es geht nur über das allmähliche Hineinfinden in die Texte mit Deiner Seele, Schritt für Schritt.
In den Vorbemerkungen zur ersten Auflage 1909 seines Grundlagenwerkes schreibt Rudolf Steiner, dass er:
“...vorsichtige Leser möchte, welche nicht gewillt sind, auf blinden Glauben hin die vorgebrachten Dinge anzunehmen, sondern welche sich bemühen, das Mitgeteilte an den Erkenntnissen der eigenen Seele und an deren Erfahrungen des eigenen Lebens zu prüfen.”
[vgl. Steiner, Rudolf (2020): Die Geheimwissenschaft im Umriss. Basel 12. Auflage, S. 13].
Deine Aufgabe ist es also, nicht blind zu glauben, was da geschrieben ist, sondern es selbst zu Erkennen. Und das beinhaltet das klare Denken und das seelische Erleben zusammen.
Bald schon entsteht auf diesem Weg ein immer größer werdendes Verständnis, die wachsende Einsicht in die Welt und den Entwicklungsweg von uns Menschen.
Und dann? Wozu soll das letztendlich gut sein?
Dann fließen Deine Erkenntnisse Schritt für Schritt in das tägliche Leben ein und bekommen dadurch ihren wahren Wert. Das unendlich Lebendige beginnt sich in Deinem Leben individuell auszudrücken. Du wirst reflektierter, bewusster und siehst immer mehr das „größere Bild“, also die geistigen Tatsachen und die physische Welt zusammen.
Dadurch kommst Du auch immer mehr zum Erkennen Deines Wesenskerns („Ich“), erweiterst also Dein Erkennen über Dein Alltagsbewusstsein („ich“) hinaus.
Und in dem Moment, wo Du Deinen Wesenskern, Dein Ich, erkennst, ergreifst Du Deine eigene Geistigkeit. Und damit bist Du automatisch in der vollen Selbsterkenntnis. Selbsterkenntnis ist Geisterkenntnis, ist das volle Bewusstsein von Dir als Mensch und die Basis für Deine innere Sicherheit. Ganz in dem Sinne von „Mensch, erkenne Dich selbst“ und verstehe Dein Mensch-Sein.
Welche Gedanken sind in Dir entstanden, welche Fragen? Wenn Du möchtest, gehen wir ein Stück Weg gemeinsam und sprechen darüber.